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Gesundheitswochen

Professor Dieter Melchart im PAZ-Interview : „Wir ergänzen die Schulmedizin“

Professor Dieter Melchart im PAZ-Interview : „Wir ergänzen die Schulmedizin“

Naturheilverfahren finden großen Anklang bei Patienten, aber auch immer mehr Ärzte setzen auf die „grüne“ Medizin. Was kann sie und ist sie wirklich frei von Nebenwirkungen? Fragen an Professor Dieter Melchart

Herr Melchart, Sie sind Leiter des Kompetenzzentrums für Komplementärmedizin und Naturheilkunde in München. Was fällt nach Ihrer Definition unter den Begriff Naturheilverfahren?Da stellt sich zunächst die Frage: Welcher Naturbegriff ist gemeint? Einfach alles darunter zu fassen, was mit Erde, Pflanzen, Wasser, Kälte oder Wärme zu tun hat, wäre zu plakativ. Es geht auch um die natürlichen inneren Selbstheilungskräfte des Menschen und darum, wie jeder Einzelne seine organismischen und seelisch-geistigen Potenziale ausschöpfen kann. Die Gesunderhaltung von innen heraus wird leider immer noch zu wenig von der modernen Medizin, die stets von außen ansetzt, berücksichtigt.Aber viele Ärzte propagieren doch gerade im Zusammenhang mit solchen Volkskrankheiten wie Rückenleiden oder Bluthochdruck eine Umstellung des Lebensstils mit mehr Bewegung und gesunder Ernährung.Ja, allerdings sind viele Kollegen frustriert, weil sie allzu oft zu wenig damit beim Patienten erreichen und immer nur den Folgeschäden hinterherlaufen. Es herrscht im Verhältnis zum Arzt häufig ein eher passives Verständnis beim Patienten vor, was die Behandlung angeht: Der Arzt soll gegen die Krankheit eine Medizin verschreiben oder eine Therapie. Aber angesichts der steigenden Zahl an chronischen Krankheiten wie eben Herz-Kreislauf-Beschwerden oder auch Gelenk- und Rückenschmerzen reicht das nicht. Zusätzlich brauchen wir eine Art moderne Lebensstilmedizin, bei der die Patienten gefordert sind, aktiv am Genesungsprozess mitzuwirken. Leider gibt es diesbezüglich ein Vermittlungsproblem.

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Zur Person

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Dieter Melchart (64) ist Anästhesist und außerplanmäßiger Professor für Naturheilkunde und Komplementärmedizin an der Technischen Universität München und der Universität Zürich. Er hat bereits vor rund 35 Jahren das Kompetenzzentrum für Komplementärmedizin und Naturheilkunde (KoKoNat) in München mitbegründet. Das KoKoNat ist am Klinikum rechts der Isar der Technischen Universität München angesiedelt und hat sich die Ausweitung von Forschung, Lehre und Praxis der Naturheilverfahren zum Ziel gesetzt.

Die Deutschen waren Naturheilverfahren gegenüber immer schon sehr aufgeschlossen.

Warum?

Die Ärzte sind in der Regel nicht pädagogisch geschult und haben zu wenig Zeit. Das Medizinstudium in Deutschland sieht zu wenig Didaktik vor. Die Fakultäten sollten diesen Aspekt endlich mehr berücksichtigen. Wir vom KoKo-Nat setzen uns dafür ein. Denn um jemandem klarzumachen, dass er sein Übergewicht in den Griff bekommen muss, braucht es seitens des Arztes verständliche Argumente und Lösungsvorschläge, die sich auch im Alltag umsetzen lassen. Hier kommt der Komplementärmedizin eine tragende Rolle zu.

Inwiefern?

Sie setzt auf ein individuelles Gesundheitsmanagement, das zusätzlich zur medikamentösen Medizin auf physiologische, geistig-seelische Komponenten sowie auf Bewegung und Ernährung setzt, um Gesundheit aus sich selbst entstehen zu lassen.

Professor Dieter Melchart im PAZ-Interview : „Wir ergänzen die Schulmedizin“-2
Rund 400 Punkte nutzt die traditionelle chinesische Medizin bei der Akupunktur. FOTOS: FOTOLIA

Der Begriff „komplementär“ meint ja ergänzend, in diesem Falle ergänzend zur Schulmedizin. Wie sind die Begriffe Alternativmedizin und integrative Medizin zu verstehen?

Alternativmedizin suggeriert eine Alternative zur Schulmedizin. Das kann aber schnell falsch verstanden werden. Denn die Schulmedizin mit all ihren lebensrettenden Errungenschaften muss immer die Basis sein für die Behandlung von Krankheiten. Es gibt also kein „Entweder-oder“, sondern nur ein „Sowohl-alsauch“. Die Bezeichnung Komplementärmedizin halte ich daher für die treffendste, wenn es um unterstützende Maßnahmen bei der Behandlung von akut, aber auch chronisch kranken Menschen geht. Man ergänzt dabei das, was da ist. Der Name integrative Medizin ist in den USA geprägt worden. Dahinter steckt das Prinzip einer geordneten Einbindung von Komplementärmedizin in die Schulmedizin beziehungsweise eine umfassende Gesundheitsmaximierung des Einzelnen.

Vor zwei Jahrzehnten war es selten, dass Ärzte zu Akupunktur oder Yoga rieten. Mittlerweile finden Naturheilverfahren nicht nur bei Patienten großen Anklang, auch immer mehr Ärzte setzen auf alternative Therapieverfahren. Wie erklären Sie sich diese Entwicklung?

Die Bevölkerung war schon vor mehr als drei Jahrzehnten daran interessiert. Ich denke, das hat historische Wurzeln. Kneipp oder auch die Reformbewegung haben dazu beigetragen, dass man in Deutschland schon immer sehr aufgeschlossen gegenüber Naturheilverfahren war.

Unter welchen Voraussetzungen darf ein Arzt damit werben, darauf spezialisiert zu sein?

Wenn er beispielsweise Akupunktur anbietet. Die ist in der Weiterbildungsordnung verankert. Der Arzt muss vor der Ärztekammer 200 Fortbildungsstunden und die Mitwirkung an Schmerztherapiekolloquien nachweisen sowie eine Prüfung ablegen.

Traditionelle chinesische Medizin ist nicht esoterisch, sondern sehr pragmatisch.

Gibt es denn nach schulmedizinischen Ansprüchen Beweise für die Wirksamkeit von Akupunktur?

Ja. Es gibt international anerkannte Studien, die jeweils einen Evidenznachweis, zum Beispiel bei chronischen Rückenschmerzen und Arthrose, geliefert haben.

Inwiefern sind ergänzende Therapien in den medizinischen Leitlinien für Ärzte verankert?

Da stehen wir noch ganz am Anfang. Es sind jedoch gerade in Zusammenhang mit Krebs komplementärmedizinische Empfehlungen in Bearbeitung. Nach jetzigem Stand wird es wohl in zwei Jahren zur Aufnahme kommen.

Erst? Dabei spielt die Komplementärmedizin doch gerade bei Krebserkrankungen eine große Rolle.

Das ist richtig. Da haben wir bereits Erfolge nachzuweisen. Etwa bei der Behandlung von Nebenwirkungen bei der Strahlen- oder Chemotherapie. So lassen sich zum Beispiel Nervenschmerzen mit einem speziellen Peeling aus Olivenöl und Zucker lindern oder Hautentzündungen mit grünem Tee minimieren.

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Wie steht es um die Aufnahme der höchst umstrittenen Homöopathie in die Leitlinien?

Zum jetzigen Zeitpunkt ist das schwer vorstellbar. Die Homöopathie arbeitet zwar auch mit dem Ansatz, die Selbstheilungskräfte des Körpers zu aktivieren, aber im Unterschied zu anerkannten Naturheilverfahren setzt sie auf Mittel und Maßnahmen, deren heilende Wirkung wissenschaftlich nicht nachweisbar sind.

Sie selbst sind Experte für traditionelle chinesische Medizin (TCM) und haben auch eine Gastprofessur in China inne. Wie viel jahrtausendealte Tradition steckt wirklich hinter der heutigen TCM?

Durch die Kulturrevolution in den 1960er- und 1970er-Jahren hat sich diesbezüglich viel verändert. Hinter TCM steckt mittlerweile ein sehr pragmatisches Konzept. Wenn man mal den politisch-philosophischen Teil weglässt, hat das nichts mit Esoterik zu tun. Gerade die chinesische Pflanzenheilkunde bietet ein großes Zukunftsfeld. Nehmen sie als Beispiel nur die chinesische Pharmakologin Youyou Tu, die 2015 den Medizinnobelpreis bekam. Aus der der traditionellen chinesischen Medizin entstammenden Heilpflanze Artemisia annua, dem Einjährigen Beifuß, gewann sie die Substanz Artemisinin, die wirksam Malaria bekämpft.

Apropos Heilpflanzen : Ist „grüne“ Medizin ohne Nebenwirkungen und immer sanft und harmlos?

Auf gar keinen Fall. Jede Pflanze ist auch eine Droge. Sie kann toxische Wirkung entfalten. Vorsicht gilt vor allem für Angebote im Internet. Was nicht offiziell von einer Apotheke verkauft wird, kann womöglich manipulierte Inhaltsstoffe enthalten. Auch in Sachen Pflanzenheilkunde braucht es geschulte Ärzte, die kompetent beraten.

Interview: Kerstin Hergt

Heilpflanzen auf dem Balkon züchten

Hilfe für kleine Wehwehchen, Entspannung nach einem stressigen Tag und ein wohltuender Raumduft: Heilpflanzen lassen sich vielfältig einsetzen und zum Teil auf dem Balkon züchten. Ringelblume, Johanniskraut und Lavendel etwa wachsen gut in Töpfen.

Grüne Hausmittel aus eigener Aufzucht haben auch den Vorteil, dass man um das Sammeln in der Natur herumkommt. Zumal über die Qualität der in der freien Natur wachsenden Pflanzen viel Skepsis herrscht. Feinstaub, hohe Düngerkonzentrationen und Giftstoffe im Boden beeinträchtigen die Wildflora.

Eigens gezüchteten Pflanzen sollte man möglichst immer die Bedingungen wie am Naturstandort bieten.

Design versus Diagnose

SPRECHSTUNDE - DR. URS-VITO ALBRECHT

Professor Dieter Melchart im PAZ-Interview : „Wir ergänzen die Schulmedizin“-4

Sie zählen Schritte, erfassen den Schlaf und geben Ernährungstipps: In den App-Stores gibt es inzwischen Hunderttausende Apps rund um die Themen Medizin, Gesundheit und Fitness. Sicherlich gibt es sinnvolle Anwendungen, doch sind diese nicht leicht zu erkennen. Insbesondere, ob es sich um qualitativ hochwertige und seriöse Apps handelt, sieht man nicht auf den ersten Blick.

Für die Anbieter sind Apps lediglich Vehikel, die die Geräte anpassbar und dadurch attraktiv machen. So beschränken sich die Vorgaben der Stores auch primär auf technische und Designvorgaben.

Gerade einmal um die 70 von den knapp 100 000 Apps sind als Medizinprodukt zu identifizieren. Und die anderen Apps? Informiert der Anbieter nicht transparent über den Zweck seiner App und fehlen Nachweise der Funktionalität, dann wird es mit der Richtigkeit der Diagnose auch nicht weit her sein.

Dr. Urs-Vito Albrecht ist stellvertretender Direktor des Reichertz Instituts für Medizinische Informatik der Technischen Universität Braunschweig und der Medizinischen Hochschule Hannover.

Metformin

SO WIRKT DAS

Metformin ist eines der wichtigsten Medikamente zur Behandlung von Diabetes Typ 2. Es senkt den Blutzuckerspiegel, indem es auf mehreren Wegen in den Glukosestoffwechsel eingreift. Die Neubildung von Glukose (Traubenzucker) in der Leber wird gehemmt, wodurch weniger Glukose ins Blut gelangt. Somit sprechen die Muskeln besser auf Insulin an.

Platz elf der Rangliste am häufigsten ärztlich verordneten Wirkstoffe nach dem Arzneiverordnungsreport 2017 der AOK.

Ausschwitzen mit Rettichsuppe

GROSSMUTTER WEISS RAT

Professor Dieter Melchart im PAZ-Interview : „Wir ergänzen die Schulmedizin“-5

Die Rettichsuppe unterstützt dabei, eine Erkältung auszuschwitzen. Zudem kurbelt sie das Immunsystem an. Für die Zubereitung vier bis fünf fein geschnittene Frühlingszwiebeln, 15 Gramm frischen Ingwer und einen fein geschnittenen weißen Rettich in einem Liter Wasser aufkochen. Die Brühe zehn Minuten reduzieren lassen und dann mehrmals täglich genießen. iff

Aus „Zwiebelwickel, Essigsocken & Co.: Traditionelle Heilmittel neu entdeckt“ von Karin Berndl und Nici Hofer, Eden Books, 112 Seiten, 14,95 Euro.