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Kalter Hund

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Foto: © Alena Ozerova/123RF

Weihnachten 1947 in Berlin. Süßigkeiten, gar Schokolade gab es nicht zu kaufen. Jedenfalls nicht in normalen Läden. Nur auf dem „Schwarzen Markt“. Dort hatte meine Mutter Kakao, Kokosfett und Leibnizkekse erstanden und aus diesen Zutaten einen sogenannten Kalten Hund gezaubert. Dieses Gebäck schmeckte am besten, wenn es längere Zeit lagerte. Sie wollte uns damit am Heiligen Abend überraschen. Im Wohnzimmer stand ein altes Büfett, dessen schier unergründliches Inneres mehr als einen halben Meter tief war und bis knapp über den Boden reichte. Wer Geschirr herausholen wollte, mußte sich also tief bücken oder sogar hinknien. Ein ideales Versteck für den Kalten Hund, fand Mutter, und verstaute ihn weit hinten in einer der Ecken an der Rückwand.Der Zufall wollte es, daß meine ältere Schwester eine Suppenterrine holen sollte und dabei die Köstlichkeit entdeckte. Vorsichtig brach sie einige Bröckchen ab und steckte sie in den Mund. Gerade als ihr weit vorgebeugter Oberkörper wieder aus dem Büfett auftauchte, kam ich ins Zimmer und merkte sofort, daß sie etwas naschte.


„Was kaust du?“, fragte ich sie.

„Nichts“, lautete ihre nicht sehr überzeugende Antwort. Aber ich war schon auf den Knien und suchte zwischen dem Geschirr. Nicht lange, dann roch ich es, und schon hatte auch ich ein paar Krümel im Mund. Einfach köstlich!

Aber auch ich wurde entdeckt, denn als ich wieder zum Vorschein kam, stand unsere jüngste Schwester hinter mir und fragte mich, was ich da im Büfett gemacht hätte. Doch bevor ich antworten konnte, war sie, genauso neugierig wie wir zwei Älteren zuvor, ebenfalls im Büfett verschwunden.

„Das ist lecker!“, hörten wir sie schmatzen. An den Beinen zog ich sie wieder heraus.

„Sei still, das ist eine Weihnachtsüberraschung! Du darfst zu keinem davon sprechen“, schärften wir ihr ein.

Nach einigen Tagen, ich war gerade alleine im Wohnzimmer, konnte ich der Versuchung nicht widerstehen und wollte schnell einmal nach dem Kalten Hund sehen. Nein, nahm ich mir vor, nicht naschen, aber wenigstens den herrlichen Duft riechen. Aber was entdeckte ich da?

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Foto: © stockcreations/123RF

Der Kuchen war sehr viel kleiner geworden!

Sogar ein Messer war dort deponiert!

Stillschweigend nahm ich das zur Kenntnis. Es blieb unser Geheimnis. Überhaupt sprach keine über unsere Entdeckung. Aber Tag für Tag säbelte eine Kinderhand ein weiteres Stückchen ab, und am Heiligen Abend war nur noch ein trauriges Restchen in der Kastenform übrig.

Heiligabend. Mit schlechtem Gewissen spielten wir drei Schwestern im Wohnzimmer „Mensch ärgere Dich nicht“. Nebenan im Erkerzimmer wurde der Baum geschmückt. Leise Musik, das Rascheln von Papier, Klirren von Gläsern oder ein zartes Klingeln waren zu hören und erhöhten die Spannung. Aber die war in diesem Jahr bei uns drei Schwestern nicht nur freudig, es mischte sich auch ängstliche Sorge in unsere Erwartungen. Bald würde unser Frevel am Kalten Hund offenbar – was dann?

Noch flüsterten Vater und Mutter leise im Weihnachtszimmer, das Schlüsselloch war verhängt. Erst zur Bescherung, wenn die Kerzen brannten, durften wir es betreten. Jetzt hörten wir die Tür knarren, Schritte näherten sich, und beschwingt trat unsere Mutter ein, lächelte uns zu – und ging in Richtung Büfett. Meine ältere Schwester mußte plötzlich nötig aufs Klo. Ich rannte hinterher und drängelte mich auch hinein. Schon polterte unsere kleine Schwester an die Tür und zwängte sich zwischen uns.

„Was ist denn mit euch los?“, rief unsere Mutter erstaunt.

Vorsichtshalber verschlossen wir die Tür und hielten lauschend unsere Köpfe dagegen.

Dann kam ein Schrei.

„Ist etwas passiert?“, fragte laut unser Vater.

„Ja“, kam die Antwort, „Mäuse!“ „Waaas?“, hörten wir Vater, „etwa zweibeinige Mäuse?“

„Ja, drei zweibeinige Mäuse!“

Stille. Ein Klopfen an der Badezimmertür schreckte uns auf. Und dann die Erleichterung.

„Kommt schon heraus“, rief unsere Mutter, „wir teilen uns eben den Rest vom Kalten Hund!“

von Rosemarie Schreuer